...denn der Ton selbst, mit seinen näheren und entfernteren Obertönen, sei ein Akkord und die Skala nur die analytische Auseinanderlegung des Klanges in die horizontale Reihe.
„Aber mit dem eigentlichen, aus mehreren Tönen bestehenden Akkord ist es doch etwas anderes. Ein Akkord will fortgeführt sein, und sobald du ihn weiterführst, ihn in einen anderen überleitest, wird jeder seiner Bestandteile zur Stimme. Oder richtiger, Stimmen, der horizontalen Entwicklung zugedacht, sind seine einzelnen Töne schon von dem Augenblick an, wo der Akkord zusammentritt. „Stimme“ ist ein sehr gutes Wort, denn es erinnert daran, dass die längste Zeit Musik gesungen worden ist, - einstimmig erst und dann mehrstimmig, und der Akkord ist ein Ergebnis des polyphonen Gesanges, das heißt: des Kontrapunkts, das heißt: eines Geflechts unabhängiger Stimmen, die bis zu einem gewissen Grade und nach veränderlichen Geschmacksgesetzen aufeinander Rücksicht nehmen. Ich finde, man sollte nie in einer akkordischen Verbindung von Tönen etwas anderes sehen als das Resultat der Stimmenbewegung und in dem akkordbildenden Ton die Stimme ehren, - den Akkord aber nicht ehren, sondern ihn als subjektiv-willkürlich verachten, solange er sich nicht durch den Gang der Stimmführung, das heißt: polyphonisch ausweisen kann. Der Akkord ist kein harmonisches Genussmittel, sondern er ist Polyphonie in sich selbst, und die Töne, die ihn bilden, sind Stimmen. Ich behaupte aber: sie sind das desto mehr, und desto entschiedener ist der polyphone Charakter des Akkordes, je dissonanter er ist. Die Dissonanz ist der Gradmesser seiner polyphonen Würde. Je stärker ein Akkord dissoniert, je mehr voneinander abstechende und auf differenzierte Weise wirksame Töne er in sich enthält, desto polyphoner ist er, und desto ausgesprochener hat schon in der Gleichzeitigkeit des Zusammenklangs jeder einzelne Ton das Gepräge der Stimme.“
(Aus: Thomas Mann, „Doktor Faustus“, VIII)