In den modernen westlichen Sprachen verwendet man Substantive an Stellen, an denen sich die eigentliche Bedeutung nur durch Verben ausdrücken lässt.
Von einem praktischen Standpunkt aus gesehen besteht eines unserer Haupthindernisse für das Verständnis der Meister im Sprachgebrauch der Überlieferungen. Kurz gesagt, in den modernen westlichen Sprachen verwendete man Substantive an Stellen, an denen sich die eigentliche Bedeutung nur durch Verben ausdrücken lässt. Auf keinen Fall sollte man dieses Manko ausschließlich den modernen Übersetzern zum Vorwurf machen, da der Fehler letztlich in einem mangelhaften Verständnis bei allen an der Vermittlung Beteiligten liegt. Der Buddha selbst sprach zum Beispiel Mâghadî, aber seine Lehre wurde erst viele Jahre später in Pali und Sanskrit aufgezeichnet. Viele unserer Meister hinterließen nichts Schriftliches, und was von ihnen auf uns gekommen ist, ist zuvor durch zahlreiche Hände gegangen. Das indische Mahâyâna hat vor vielen Jahrhunderten Indien verlassen; was wir heute studieren können, ist seine Entwicklung und Praxis in China, und in der chinesischen Schriftsprache gibt es praktisch keine Wortarten. Schließlich sind moderne westliche Sprachen, besonders Französisch mit seiner kartesianischen Tradition, so tief in objektiven Ausdrucksformen verwurzelt, dass es schwierig und manchmal unmöglich ist, einen Gedanken anders als auf rein objektive Art auszudrücken. Aber die Botschaft der Meister besteht genau darin, dass alles Objektivierte als solches nicht wahr ist und dass das, was wir wirklich sind, nur erfasst werden kann, wenn wir aufhören, auf diese Art "wahrzunehmen".
Solange Substantive benutzt werden, um eine Lehre zu formulieren, beschreibt sie Objekte, unabhängig davon, ob es sich um konkrete oder abstrakte Objekte handelt. Aber der Kern der Lehre kann nur durch die Verwendung adverbialer und verbaler Formen vermittelt werden, denn in der Lehre geht es eher um ein dynamisches Wirken als um irgend etwas Nominales, das etwas bewirkt (oder etwas Nominales als Ergebnis eines Wirkens), auch wenn beides - Nominales und Funktionales - rein gedankliche Konstruktionen sind. Dies gilt für jeden Aspekt der Lehre. Zeit und Raum zum Beispiel sollte man sich nicht als "Dinge" vorstellen. Als Substantive missverstehen wir sie auf Anhieb, sie sind bestenfalls adjektivisch - das heißt abhängig von einem Wirken, das sie als Vorstellungen benutzt. Und "Skandhas" oder die Sinne oder verschiedene in Begriffe gekleidete Formen und Stufen des Bewusstseins sind allesamt Funktionen und können deshalb nur mit Verben oder darauf bezogenen Adverbien ausgedrückt werden. Als Objekte, so sagt die Lehre, haben sie überhaupt keine Existenz. Aber selbst dann ist der Ausdruck zwangsläufig unvollkommen, denn grundsätzlich kann jegliche Wahrheit nicht ausgedrückt, sondern nur angedeutet oder angezeigt werden, da es in begrifflicher Form keine Wahrheit geben kann.
Wesentlich ist, dass der Gebrauch von Substantiven genau in die entgegengesetzte Richtung dessen weist, was angedeutet oder angezeigt werden könnte, dadurch die dargestellte Lehre zunichte macht und ihren Sinn verdreht. Dagegen lässt adverbialer und verbaler Sprachgebrauch Andeutungen und Hinweise zu - so direkt wie nur überhaupt möglich. Mit Nominativen sind Missverständnisse unvermeidlich, und die Leser kommen bestenfalls zu der Überzeugung, dass sie einen Blick auf eine unauflösbare Vermischung von Widersprüchen geworfen haben in sich. Durch verbalen Ausdruck hingegen wird nicht-objektives Erkennen zugänglicher.
(Aus: "Das offenbare Geheimnis", Wei Wu Wei, www.boelters.de)