Hundertundfünfter Brief

 

Rhedi an Usbek in Paris

 

Du hast mir in einem Deiner Briefe viel von der Pflege der Wissenschaften und Künste im Abendland berichtet. Du wirst mich für einen Barbaren halten, aber ich weiß nicht, ob der Nutzen, den man aus ihnen zieht, die Menschen für den Missbrauch entschädigt, der täglich mit ihnen getrieben wird.

Ich habe mir sagen lassen, dass allein die Erfindung der Bomben allen Völkern Europas die Freiheit genommen hat. Die Fürsten konnten die Bewachung ihrer Festungen nicht mehr den Bürgern überlassen, die sich beim ersten Einschlag einer Bombe ergeben hätten, und so nahmen sie dies zum Vorwand, um große Abteilungen regulärer Truppen zu unterhalten, mit denen sie dann ihre Untertanen unterdrückt haben.

Du weißt, dass es seit der Erfindung des Schießpulvers keine uneinnehmbaren Festungen mehr gibt. Das bedeutet aber auch, Usbek, dass es auf Erden keinen Zufluchtsort mehr gibt gegen Ungerechtigkeit und Gewalt.

Ich zittere Immer bei dem Gedanken, dass man schließlich zu der Entdeckung eines Geheimnisses gelangt, das es ermöglicht, die Menschen auf noch kürzerem Wege zu vernichten und ganze Völker und Nationen zu zerstören.

Du hast doch die Historiker gelesen; wenn du genau hinsiehst, wirst Du erkennen, dass fast alle Monarchien nur auf Unkenntnis von Kunst und Wissenschaft begründet waren und nur deshalb zerstört wurden, weil man diese zu sehr gepflegt hat. Das alte persische Reich liefert uns dafür ein Beispiel aus unserem Bereich.

Ich bin noch nicht lange in Europa, aber ich habe gehört, wie kluge Leute von den verheerenden Auswirkungen der Chemie gesprochen haben. Dabei handelt es sich offenbar um die vierte Geißel der Menschheit, die die Menschen ruiniert und einzeln, aber stetig, zerstört, während Krieg, Pest und Hungersnot dies im Großen, aber in Abständen tun.

Hat uns die Erfindung des Kompasses und die Entdeckung vieler Völker etwas anderes eingebracht, als dass wir eher ihre Krankheiten als ihre Reichtümer erhielten? Gold und Silber waren nach allgemeiner Übereinkunft dazu bestimmt worden, den Preis für alle Waren und ein Pfand ihres Wertes abzugeben, da diese Metalle selten und zu nicht anderem zu gebrauchen waren. Warum war es dann so wichtig, dass sie in größeren Mengen in Umlauf kamen und dass wir, um den Wert einer Ware festzustellen, statt eines Geldzeichens zwei oder drei bekamen? Dadurch wurde die Sache nur unpraktischer.

Aber auf der anderen Seite brachte diese Erfindung den neu entdeckten Ländern viel Unheil. Ganze Nationen wurden vernichtet, und die Menschen, die dem Tod entgangen waren, wurden in eine so harte Knechtschaft gezwungen, dass die Erzählung noch die Mohammedaner schaudern lässt.

Gepriesen sei die Unwissenheit der Kinder Mohammeds! Ihre liebenswerte Einfalt war unserem heiligen Propheten so teuer! Beides erinnert mich immer an die Unbefangenheit der alten Zeiten und an den Frieden, der im Herzen unserer Vorfahren herrschte!

 

Venedig, am 2. des Monats Ramadan 1717

 

(Aus: Montesquieu, „Persische Briefe“, Reclam, 2004, S.194/195)