Das Leben verliert den erschütternden Ernst, den es in allen regionalen Hochkulturen gehabt hat, da es nirgends mehr in transzendente Hintergründe hinüberweist. Alle Spiritualität, von der der Mensch bis dato gezehrt hat, hat sich endgültig in der irdischen Existenz niedergelassen.
Dieser Substanzverlust des Menschen, der die Wahrheit seiner Seele zur Wahrscheinlichkeit degradiert und die moralische Entscheidung unserer wesentlichsten Handlungen dem verantwortungslosen Einsatz im Glücksspiele gleichstellt, hat nichtsdestoweniger eine befreiende Wirkung. Er erlöst das Ich von dem Gewicht der historischen Tradition und von der Verpflichtung gegenüber aller bisherigen Geschichte. Das Leben verliert den erschütternden Ernst, den es in allen regionalen Hochkulturen gehabt hat, da es nirgends mehr in transzendente Hintergründe hinüberweist. Alle Spiritualität, von der der Mensch bis dato gezehrt hat, hat sich endgültig in der irdischen Existenz niedergelassen. Sie ist greifbar und erreichbar, weil sie sich nicht mehr als Wahrheit offenbart – und Offenbarung setzt ein Verborgenes voraus – sondern als Wahrscheinlichkeit zur empirischen Möglichkeit hinuntersinkt.
Auf dem Boden eines sich in Wahrscheinlichkeitschancen verlierenden Lebens wird zum ersten Mal die Frage möglich, und sehr bald emotional notwendig: ist es möglich, die bisher in der Geschichte erarbeitete Wahrheit in ihrer Existentialität so zu sichern, dass sie fortbesteht, ohne den Individuen Verpflichtungen aufzuerlegen. Mit einer Wahrheit, die in seiner Geschichte lebendig ist, muss der historische Mensch sich identifizieren. Er kann gar nicht anders. Entzieht er sich dieser existentiellen Verpflichtung, so scheidet er damit als Subjekt aus der Geschichte aus und nimmt an ihrer Bewegung nicht mehr teil. Das gilt für jene historischen Stadien, die Spengler unter der Bezeichnung „Kultur“ zusammengefasst hat. Die spirituellen Existenzbedingungen des Menschen aber ändern sich radikal, sobald die jeweilige Kultur in das Stadium der abschließenden und liquidierenden Zivilisation übergeht. Die begrenzten seelischen Möglichkeiten, die der historische Mensch auf einer jeweiligen Kulturstufe hat, sind jetzt erschöpft und das Individuum besitzt keine spirituellen Reserven mehr, die ihm erlauben, sich mit dem Fortgang der gegenwärtigen Geschichte zu identifizieren. Diese seelische Lage des Menschen äußert sich in einem ambivalenten Zustand, der in allen späten Zivilisationen zu beobachten ist. Einerseits wird die Weiterarbeit an den eigenen historischen Problemen aufgegeben. Man produziert nichts Neues mehr. Andererseits aber hält man an dem einmal erreichten existentiellen Zustand mit verzweifelter Zähigkeit fest. Gegen den Geist, der in einer gegebenen historischen Institution lebt, ist man gleichgültig geworden. Weder ist der Wille noch die Kraft vorhanden, sich noch länger mit ihm zu identifizieren und ihn in solchen immer erneuten Identifikationsprozessen weiter zu treiben. Man hat den eigenen objektiv gewordenen Geist im negativsten Sinne des Wortes aufgegeben. Aber diese müde Gleichgültigkeit gegenüber der eigenen spirituellen Essenz, die sich in der symbolischen Formenwelt der eigenen Geschichte abgesetzt und objektiviert hat, geht Hand in Hand mit einer zähen Beharrlichkeit, diese mehr und mehr sinnlos werdenden Formen und Institutionen eines abgeschiedenen Lebens zu bewahren und sie in ihrem erstarrten Zustand auf ewig zu erhalten.
Alle späten Zivilisationen haben deshalb eine nihilistische und eine extrem konservative Seite.
(Aus: Gotthard Günther, „Dieser Substanzverlust des Menschen“, S. 1/2)