Das wirkliche Leben im ewigen Kreislauf der Notwendigkeit stereotyper Gewohnheiten.
Langsam schieben sich weiße Finger zwischen den Vorhängen durch und scheinen zu zittern. In schwarzen verzerrten Formen kriechen lautlose Schatten in die Zimmerecken und kauern sich dort nieder. Draußen regen sich die Vögel im Laub, oder man hört die Schritte von Männern, die zur Arbeit gehen, oder das Seufzen und Heulen des Windes, der von den Hügeln kommt und das schweigsame Haus umfährt, als ob er sich fürchtete, die Schläfer zu wecken, und doch es nicht lassen könnte, den Schlaf aus seiner purpurnen Höhle zu locken. Schleier um Schleier aus dünner, dunkelfarbener Gaze hebt sich, und allmählich werden den Dingen die Formen und Farben wiedergegeben, und wir gewahren den dämmernden Morgen, der die Welt in ihrem uralt-gleichen Bild wiederherstellt. Die stumpfen Spiegel erhalten ihr mimisches Leben zurück. Ausgelöscht stehen die Kerzen, wo wir sie gelassen haben, und neben ihnen liegt das halb aufgeschnittene Buch, in dem wir gelesen, oder die mit Draht verstärkte Blume, die wir auf dem Ball getragen, oder der Brief, den zu lesen wir uns gefürchtet oder den wir zu oft gelesen haben. Nichts scheint uns verändert. Aus den unwirklichen Schatten der Nacht kommt das wirkliche Leben, wie wir es gekannt hatten, hervor. Wir müssen es wieder da aufnehmen, wo wir es gelassen hatten, und es überkommt uns ein furchtbares Gefühl von der Notwendigkeit der Fortdauer der Energie in demselben ermüdenden Kreislauf stereotyper Gewohnheit, oder vielleicht ein wildes Verlangen, unsere Lider möchten sich eines Morgens einer Welt öffnen, die in den dunklen Stunden zu unserer Lust neu geformt worden wäre, einer Welt, in der die Dinge frische Formen und Farben hätten und verwandelt wären oder andere Geheimnisse enthielten, einer Welt, in der die Vergangenheit einen kleinen oder gar keinen Platz hätte oder wir uns ihrer wenigstens nicht als Pflicht oder Reue bewusst würden, wo selbst das Gedächtnis an die Freude Bitterkeit birgt und die Erinnerung an die Lust den Schmerz im Gefolge hat.
(Aus: Oscar Wilde, „Das Bildnis des Dorian Gray“, 11. Kapitel)