Zur Sache!

Kultur als Gerüst aller Vorurteile, Verstellungen, Ausflüchte, Augenwischereien, Sophisterei, als Sehnsucht des Hundes nach dem Halsband.

Wilhelm Klopper

„Die Kultur als Fehler“

(Universitas Verlag)

 

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Dieses Buch konnte nur ein Deutscher schreiben! Die Vorliebe für Klassifizierungen, für gewissenhafte Ordnung, die ungezählte Handbücher hervorbrachte, hat die deutsche Seele in eine Sortiermaschine verwandelt. Sieht man die unvergleichliche Gliederung allein des Inhaltsverzeichnisses in diesem Buch, so kann man sich des Gedankens nicht erwehren, der Herrgott hätte, wäre er deutscher Nationalität gewesen, unsere Welt wohl nicht unbedingt bewohnbarer, auf jeden Fall aber nach einer höheren Idee von Zucht und Ordnung eingerichtet. Die Perfektion ist geradezu erdrückend, weckt allerdings auch keinerlei sachliche Vorbehalte.

Ich kann mich hier nicht auf Erörterungen einlassen, ob jene rein formale Begeisterung für Reih und Glied, stramm ausgerichtete Symmetrie, nicht auch ihren Einfluss auf bestimmte Inhalte hatte, die für die deutsche Philosophie und speziell deren Ontologie typisch sind. Im Kosmos liebte Hegel Preußen, denn in Preußen herrschte Ordnung! Selbst ein so von der Ästhetik entflammter Denker wie Schopenhauer zeigte in seinem Aufsatz „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“, wie gedrillte Darlegung auszusehen hat. Und Fichte? Ich muss mir das Vergnügen einer Abschweifung versagen, was mir umso schwerer fällt, als ich kein Deutscher bin. Zur Sache, zur Sache!

 

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Die Ursachen für den gegenwärtigen geistigen und körperlichen Zustand des Menschen darf der Humanist nicht, der Wissenschaft folgend, interpretieren als Resultante einer langen Serie von schicksalhaften Zerrungen innermilliardären Konvulsionen des Evolutionsprozesses, der hin und her geschleudert wurde durch tektonische Erschütterungen, große Eiszeiten, Explosionen von Gestirnen, Verschiebungen der Magnetpole und unzählige andere Zufälle. Was die Evolution erst der Tiere, dann der Anthropoiden in reinem Lotteriespiel angehäuft, was Zuchtwahl und Selektion auf einen Haufen geworfen haben, was sich von einem Tag auf den anderen in den Genen fixiert hat wie durch Würfelspiel – all das sollen wir für unantastbar, ja für heilig halten und nicht daran rühren dürfen in Ewigkeit. Warum es aber so sein soll, dürfen wir nicht wissen. Als wäre unsere Diagnose eine Beleidigung für die Kultur, diese in edler Absicht unternommene Arbeit, die größte, schwierigste, phantastischste und verlogenste aller Lügen, die der homo sapiens zustande gebracht hat – und an die er sich klammert, seit er in den freien Raum der Vernunftexistenz geworfen ist, heraus aus der finsteren Spelunke, wo immer noch mit den Genen geschachert wird, wo der Evolutionsprozess sein Falschspielertricks in den Chromosomen fixiert.

 

(Aus: S. Lem, „Das absolute Vakuum“)