Es wird gesagt, ein System sei komplex, seine Komplexität sei reduzierbar, erzeuge Paradoxien; ein System sei komplex, wenn es eine große Anzahl von Elementen aufweise, die in einer großen Zahl von Beziehungen zueinander stehen könnten usw. Von der Komplexität eines Systems wird so gesprochen, als wäre sie eine Eigenschaft des Systems, die erhöht oder reduziert werden kann. Durch diese Prädikation wird zwangsläufig eine dichotomisierende Logik induziert. Das Prädikat „komplex“ trifft dabei auf das System zu oder nicht – tertium non datur. Von welchem Standpunkt aus diese Prädikation vollzogen wird, ist im Sprachrahmen dieser Logik selbst nicht mehr formulierbar. Der Standpunkt von dem aus eine Prädikation vollzogen wird, muss nicht berücksichtigt werden, denn nicht er, sondern das System ist Thema der Prädikation und es gilt, dass es komplex ist oder nicht. Dies hat Gültigkeit für jeden möglichen Standpunkt der Beschreibung des Systems. Wäre dem nicht so, wäre ja die Prädikation „komplex“ rein subjektiv und der Willkür unterworfen. D.h., ein System könnte dann für den einen komplex und für den anderen nicht komplex sein. Die Logik, die die Prädikation regelt ist eine Logik ohne ein Subjekt, das denkt oder spricht. Sie gilt für einen und nur einen allgemeinen formalen Zusammenhang (Kontextur); sie wird daher als monokontextural bestimmt.
Nun entspricht es gerade der alltäglichen Erfahrung, dass kein allgemeiner und verbindlicher Standpunkt gefunden werden kann, und dass für den einen ein System als komplex und für den anderen das gleiche System als nicht komplex erscheint. Beide wollen miteinander kooperieren, sind aber aus guten Gründen nicht bereit ihren Standpunkt aufzugeben. Statt sich nun mit Widersprüchen, Paradoxien und anderen Unverträglichkeiten zufrieden zugeben, scheint es sinnvoll zu sein, nach einer Logik zu fragen, die mit verschiedenen, gegensätzlichen und miteinander kooperierenden Standpunkten bzw. Kontexturen zu arbeiten in der Lage ist.
Vom Standort der polykontexturalen Logik – einer Logik, die mit einer Vielheit von Kontexturen arbeitet – ist das Wort „komplex“ nicht einfach ein Adjektiv wie „rot“ oder „bitter“, sondern ein Reflexionsbegriff, d.h., ein von einem Standpunkt abhängiger Begriff wie „oben – unten“, „links – recht“, „qualitativ – quantitativ“, „offen – geschlossen“. Es gibt wenig Sinn etwa prädikativ zu sagen 'die Kirche steht links', ohne dabei den Standort mit anzugeben, von wo aus die Kirche links und nicht rechts steht. Das Komplementärwort zu „Komplexität“ ist danach nicht „Einfachheit“, sondern „Kompliziertheit“, bzw. „Komplikation“. Komplexität ist ein qualitativer und Kompliziertheit ein quantitativer systemtheoretischer Begriff.
Komplexität gibt an wie viele irreduzible Qualitäten bzw. Kontexturen im Spiel sind. Jede dieser Kontexturen besitzt ihre eigene Logik und Arithmetik und ihre Regeln des Zusammenspiels mit ihren benachbarten Kontexturen. Da diese zugleich gelten ist die Ordnung zwischen den Kontexturen nicht hierarchisch (untergeordnet), sondern heterarchisch (nebengeordnet).
Die Kompliziertheit ist ein Maß, das angibt, wieviele Variablen innerhalb einer jeweiligen Kontextur zur Beschreibung der quantitativen Verhältnisse des Systems benötigt werden. Die Komplexität gibt an, wieviele unabhängige Standpunkte bzw. Kontexturen im Spiel sind.
(Aus: Rudolf Kaehr, "Zur Dekonstruktion der Techno-Logik & Hinführung zur Graphematik", S.27,
http://www.vordenker.de/rk/rk_Zur-Dekonstruktion-der-Techno-Logik_1995.pdf)