Das Leben, hervorgerufen aus dem Sein, wie dieses einst aus dem Nichts, - das Leben, diese Blüte des Seins, - es habe alle Grundstoffe mit der unbelebten Natur gemein, - nicht einen einzigen habe es aufzuweisen, der nur ihm gehöre. Man könne nicht sagen, dass es sich unzweideutig gegen das bloße Sein, das unbelebte, absetze. Die Grenze zwischen ihm und dem Unbelebten sei fließend. Die Pflanzenzelle erweise die natürliche Möglichkeit, dem Steinreich angehörige Stoffe mit Hilfe des Sonnenäthers so umzubauen, dass sie in ihr Leben gewönnen. Das urzeugerische Vermögen des Blattgrüns gebe uns also ein Beispiel von der Entstehung des Organischen aus dem Unorganischen. Es fehle nicht am Umgekehrten. Wir hätten die Gesteinbildung aus tierischer Kieselsäure. Zukünftige Festlandgebirge wüchsen im Meer, wo es am tiefsten sei, aus den Skelettresten winziger Lebewesen. Im Schein- und Halbleben der flüssigen Kristalle spiele augenfällig das eine Naturreich ins andere hinüber. Immer, wenn die Natur uns gaukelnd im Unorganischen das Organische vortäusche, wie in den Schwefel-, den Eisblumen, wolle sie uns lehren, dass sie nur eines sei.
Das Organische selbst kenne die klare Grenze nicht zwischen seinen Arten. Das Tierische gehe ins Pflanzliche über dort, wo es am Stengel sitze und Rund-Symmetrie, Blütengestalt annehme, das Pflanzliche ins Tierische, wo es das Tier fange und fresse, statt aus dem Mineralischen Leben zu saugen. Aus dem Tierischen sei durch Abstammung, wie man sage, in Wirklichkeit durch ein Hinzukommendes, das so wenig bei Namen zu nennen sei wie das Wesen des Lebens, wie der Ursprung des Seins, der Mensch hervorgegangen. Aber der Punkt, wo er schon Mensch sei und nicht mehr Tier, oder nicht mehr nur Tier, sei schwer zu bestimmen. Der Mensch bewahre das Tierische, wie das Leben das Unorganische in sich bewahre; denn in seinen letzten Bausteinen, den Atomen, gehe es ins Nicht-mehr-, ins Noch-nicht-Organische über. Im Innersten jedoch, dem untersichtigen Atom, verflüchtige die Materie sich ins Immaterielle, nicht mehr Körperliche; denn was dort umtreibe und wovon das Atom ein Überbau sei, das sei fast unter dem Sein, da es keinen bestimmbaren Platz im Raum noch einen nennbaren Betrag von Raum mehr einnehme, wie es einem redlichen Körper gebühre. Aus dem Kaum-schon-Sein sei das Sein gebildet, und es verfließe ins Kaum-noch-Sein.
Alle Natur, von ihren frühesten, fast noch immateriellen und ihren einfachsten Formen bis zu den entwickeltsten und höchst lebendigen, sei immer versammelt geblieben und bestehe nebeneinander fort, - Sternnebel, Stein, Wurm und Mensch. Dass viele Tierformen ausgestorben seien, dass es keine fliegenden Echsen und keine Mammuts mehr gebe, hindere nicht, dass neben dem Menschen das gerade schon formbeständige Urtier fortlebe, der Einzeller, das Infusor, die Mikrobe, mit einer Pforte zur Einfuhr und einer zur Ausfuhr an ihrem Zell-Leib, - mehr brauche es nicht, um Tier zu sein, und um Mensch zu sein, brauche es meistens auch nicht viel mehr. –
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Es gebe den Fortschritt, ohne Zweifel gebe es ihn, vom Pithecanthropus erectus bis zu Newton und Shakespeare, das sei ein weiter, entschieden aufwärts führender Weg. Wie es sich aber verhalte in der übrigen Natur, so auch in der Menschenwelt: auch hier sei immer alles versammelt, alle Zustände der Kultur und Moral, alles, vom Frühesten bis zum Spätesten, vom Dümmsten bis zum Gescheitesten, vom Urtümlichsten, Dumpfesten, Wildesten bis zum Höchst- und Feinstentwickelten bestehe allezeit nebeneinander in dieser Welt, ja oft werde das Feinste müd' seiner selbst, vergaffe sich in das Urtümliche und sinke trunken ins Wilde zurück.
(Aus: Thomas Mann, „Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“, Drittes Buch, Fünftes Kapitel)