Dekonstruktion der Linearität

 

Bekanntlich sind seit Aristoteles für das herrschende Denken alle philosophischen, semiotischen und mathematisch–logischen Konzepte der Zahl dem Linearitätsprinzip treu geblieben.

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Eine erste mathematische Dekonstruktion der Linearität der Reihe der natürlichen Zahlen leistet der Ultra–Intuitionismus des russischen Mathematikers Aleksander S. Yessenin–Volpin.

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Der Ultra–Intuitionismus ist in der Lage zu zeigen, dass nicht einmal die natürlichen Zahlen finit und eindeutig definierbar sind.

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Die Einführung der natürlichen Zahlen unter dem Postulat der Einzigkeit der Reihe der natürlichen Zahlen führt zu einem Zirkel: die einzuführenden Zahlen werden bei der Einführung als schon existent und disponibel vorausgesetzt.

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Dieser Zirkularität ist nur zu entgehen, wenn die traditionelle Annahme der Eindeutigkeit der Reihe der natürlichen Zahlen aufgegeben wird und eine Vielzahl von Zahlenreihen und notwendigerweise auch eine Vielzahl von korrespondierenden Logiksystemen zugelassen werden.

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Die Angst des logozentrischen Denkens vor dem Nichtsein, dem Nichts und der Leere, haben den Gebrauch der Positionalität an die Linearität gebunden.

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Die Positionalität steht, soweit sie überhaupt ausgebildet ist, im Dienste der Linearität. Als eigentliches Hindernis einer Weiterentwicklung des Denkens und seiner Notationstechniken erweist sich immer deutlicher deren eigenes Produktionsverhältnis, die Linearität.

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„Das rätselhafte Modell der Linie ist also gerade das, was die Philosophie, als sie ihren Blick auf das Innere

ihrer eigenen Geschichte gerichtet hielt, nicht sehen konnte. Diese Nacht hellt sich in dem Augenblick ein wenig auf, wo die Linearität – die nicht der Verlust noch die Abwesenheit, sondern die Verdrängung des mehrdimensionalen symbolischen Denkens ist – ihre Unterdrückung lockert, weil sie allmählich die lange Zeit von ihr begünstigte technische und wissenschaftliche Ökonomie zu sterilisieren beginnt.“ (Derrida, 1974)

 

(Aus: Rudolf Kaehr, "Spaltungen in der Wiederholung", http://www.vordenker.de/rk/rk_spaltungen-in-der-wiederholung_1992.pdf)