Homunkulus

 

In der Idee des Homunkulus wird der Prozess, der zur Entstehung des Menschen und des vernünftigen Bewusstseins geführt hat, auf das genaueste wiederholt. Man beginnt mit anorganischen Stoffen, „destilliert“ sie in organische niederer Form und schreitet dann durch weitere „chemische“ Reaktionen zu höheren organischen Gebilden fort, bis man auf diesem langen Wege schließlich die Gestalt des Menschen erreicht und der Restbestand der chemischen „Potenz“ der Materie sich in Bewusstsein verwandelt hat. In anderen Worten, das „technische“ Prinzip, das der Fabrikation des Homunkulus unterliegt, ist eine Rekapitulation der Geschichte der Welt und des Menschen. Was die Retorte zu liefern hat, ist eine im Detail vollständige Abbreviatur der Historie des Universums. Die Abbreviatur kommt dadurch zustande, dass aus dem ganzen Prozess die Zeit und der Raum praktisch so weit wie möglich eliminiert werden. Man kann diese beiden Größen nicht ganz ausschalten, da ja schließlich die Retorte, in der die Abbreviatur sich vollzieht, noch einen, wenn auch kleinen Platz im Raum einnimmt, weshalb der ganze Prozess auch eine proportionale Zeitdauer haben muss. Raum und Zeit sind aber auch das einzige, was eliminiert, resp. Reduziert werden darf. Sind die materiellen Stufen, die zur Entwicklung des Menschen geführt haben, nicht völlig unter Einschluss selbst des untergeordnetsten Entwicklungsdetails wiederholt, dann glückt das Experiment nicht. Der Homunkulus entsteht entweder überhaupt nicht, oder er bleibt tot. Utopisch ist die Homunkulusidee deshalb, weil es nie glücken kann, die Geschichte der Welt beschleunigt zu wiederholen, ohne dabei Wesentliches auszulassen. Vor allem kann man nicht am existenziellen „Anfang“ beginnen, weil der letztere metaphysisch und nicht physisch ist. Man lässt die Abbreviatur also vom zweiten Schritt an laufen, wodurch sie von vornherein zum Scheitern verurteilt ist.

 

Das Problem des „mechanical brain“ beruht auf sehr gegensätzlichen Prinzipien. Es verwirft das ganze metaphysische Schema, auf dem die Idee des Homunkulus beruht. Die Retortenidee setzt voraus, dass Leben und Bewusstsein historische Resultate des Seins sind. D.h., die physischen Kategorien sind primär, die psychischen sekundär, und Bedeutungskategorien folgen erst an letzter und ontologisch schwächster Stelle. Wenn wir diese Auffassung in der Terminologie der kybernetischen Theorien näher charakterisieren wollen, können wir sagen, dass gemäß der klassischen Wissenschaftstradition die reine Materie in ihrem Urzustand keine „Information“ enthält. Der Anfangszustand ist materiell angeblich Chaos, und letzteres repräsentiert in sich keine Bedeutungszusammenhänge. Denn das ist es, was der Kybernetiker meint, wenn er von der „Information“ spricht, die in einem bestimmten Existenzzustand enthalten ist. „Information“ aber ist die konstatierbare oder existenzielle Form des Geistes. Wenn der klassische Techniker also vom Chaos ausgeht, so meint er damit, dass man in jeder Konstruktion ontologisch nur mit dem physischen System der Kategorien beginnen kann und dass es die wissenschaftliche Aufgabe des Konstrukteurs, oder des „Chemikers“,  ist, die schwächeren Kategorien des Psychischen und des Logischen nachträglich aus den physischen Grundbedingungen der Existenz theoretisch sowohl wie praktisch chemisch abzuleiten.

 

Es ist aber eine ganz dogmatische und durch nichts begründete Annahme, dass man sich den Anfangszustand der Welt als chaotisch vorstellen muss. Vor allem ist es bestimmt falsch, sich Chaos als physischen Zustand zu denken. „Chaos“ ist überhaupt kein physischer, es ist ein metaphysischer Begriff. Derselbe spielt in der geistigen und speziell wissenschaftlichen Tradition des Abendlandes nur deshalb eine solche bedeutende Rolle, weil die klassische Metaphysik (Ontologie) grundsätzlich monistisch ist und nur einen logisch-metaphysischen Grund der Welt, das Sein des Seienden, zulässt.

 

(Aus: Gotthard Günther, „Homunkulus versus Robot“, S.9-10

https://www.vordenker.de/ggphilosophy/gg_homunkulus-versus-robot.pdf)