Hegel tadelt an Kant sein Festhalten an dem Gegensatz eines denkenden Subjekts, das einem existierenden Objekt gegenübersteht. Da das Ich-an-sich selbstverständlich genauso unzugänglich ist wie das Ding-an-sich, ist es auf dem Boden der Kantischen Philosophie völlig unmöglich, zu untersuchen, in welcher Weise im Ich der subjektive Abbildungsprozess arbeitet, als dessen Resultat die Welt als Abbild im Bewusstsein erscheint. Die Genese dieses Bildes ist völlig rätselhaft. Wir wissen nur, dass wir ein solches Bild haben und das wir es im Hinblick auf seine Beziehungen zur „wirklichen“ Welt, die uns durch Handlungen vermittelt ist, untersuchen können. D.h., wir können nach der objektiven Gültigkeit des Bildes, das uns in Vorstellungen, Begriffen und Kategorien gegeben ist, fragen. Da aber Kant stillschweigend Zweiwertigkeit der Logik voraussetzt, existiert zwischen dem Urbild und seinem Abbild logische Symmetrie. Beide stehen im Umtauschverhältnis miteinander. Die großen Erwartungen, die Kant an seine Kopernikanische Wendung knüpfte, sind infolge dieser Symmetrie ganz ungerechtfertigt. Es ist gleichgültig, ob man annimmt, dass sich alle unsere Erkenntnis nach den Gegenständen richtet, oder ob man postuliert, dass sich die Gegenstände nach unserer Erkenntnis richten. Eine solche Relation wird erst dann irreversibel, wenn wir eine logische Asymmetrie zwischen Subjekt und Objekt annehmen müssen. Eine solche Asymmetrie besteht nicht, wenn wir die Reflexion nur als passives Bild, d.h. als Bewusstseinsinhalt, nicht aber als aktiven Abbildungsprozess ansehen. Bewusstsein ist nach Hegel kein An-sich (Ich-an-sich), es ist der lebendige Vorgang der Reflexion, also eine Handlung – wie Fichte schon vorweggenommen hatte.
(Aus: Gotthard Günther, „Kritische Bemerkungen zur gegenwärtigen Wissenschaftstheorie“, 1968, S. 2/3, www.vordenker.de)