Für Kant bestand kein Zweifel, dass die Philosophie auf dem Primat des Willens und der absoluten Souveränität der freien Entscheidung (kategorischer Imperativ) beharren muss. Vernunft – so Kant – kann nicht den Willen beherrschen, weil sie durch eine innerliche Anfälligkeit für in ihr eingebaute Täuschungen – die er 'transzendentalen Schein' nennt – beschränkt wird. Diese Trugschlüsse sind nicht Ausdruck menschlicher Unfähigkeit und Stümperhaftigkeit, sondern gehören zum ursprünglichen Wesen des theoretischen Denkens.
Diesen metaphysischen Mangel der Vernunft lehnt Hegel, der Philosoph des 'Panlogismus' ab. Der Wille als Widersacher der Vernunft erfährt seine höchste Ausdrucksform im (Be)Reich des 'objektiven Geistes', z.B. in Recht, Moral und Staat. Aber über dem objektiven Geist regiert der 'absolute Geist', der die Selbstreferenz einer Vernunft ist, die sich über sich selbst hinwegsetzt.
Wir wollen den weiteren Launen dieses Meinungsstreites nicht folgen, der bis heute ein ungelöstes Problem geblieben ist und der innerhalb des klassischen Weltbildes ungelöst bleiben muss. Solange die Wirklichkeit in einen natürlichen und einen übernatürlichen Bereich aufgeteilt wird, kann dieses Problem nicht verschwinden, denn es ist das Produkt eben dieses Spaltungsprozesses. Dadurch wird 'Subjektivität an sich' in eine natürliche und eine übernatürliche Komponente getrennt.
Wenn ein Problem wieder und wieder auftaucht und keine Lösung gefunden werden kann, dann sollte man nicht danach fragen, was die Vertreter gegensätzlicher Standpunkte voneinander unterscheidet, sondern was sie gemeinsam haben. Das ist der Punkt, wo die Quelle des Missverständnisses liegen muss! Und gleichgültig wie unvereinbar die Lösungsversuche griechischer Wissenschaftler und religiöser Denker des frühen Christentums, von Thomisten und Scotisten und letztlich Kants und Hegels gewesen sein mögen – in der Art wie dieses Problem aufgeworfen wurde, gab es eine verborgene Übereinstimmung zwischen den streitenden Parteien. Keine Seite hat nämlich je daran gezweifelt, dass Wille und Vernunft zwei unterschiedliche geistige Fähigkeiten des Subjekts sind, die getrennt identifiziert und dann einander gegenübergestellt werden können – so wie sich zwei einander bekriegende Feldherrn auf dem Schlachtfeld treffen, jeder mit der Absicht, den Widersacher zu besiegen. Keiner der Vertreter beider Seiten hat je erkannt, dass darüber zu streiten sich nicht lohnt.
Gelegentlich und rein zufällig wurde in der Philosophie die Rechtmäßigkeit dieses Problems zaghaft bezweifelt; aber solche Zweifel blieben ohne wirksame Folgen. Dazu wäre es nötig gewesen, die Voraussetzungen – dass Wille und Vernunft überhaupt zwei getrennte und voneinander unabhängig arbeitende Fähigkeiten des Geistes sind – zu verneinen. Und während der klassischen Periode von Philosophie und Wissenschaft fehlten noch die Werkzeuge zur Entwicklung der hierzu erforderlichen Theorie.
Dies ist jedoch gerade der Standpunkt, den wir einnehmen wollen. Unsere These ist: Wille und Vernunft sind Ausdruck ein und derselben Tätigkeit des Geistes, jedoch von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtet. Mit anderen Worten: Vernunft und Wille oder einerseits theoretische Reflexion und andererseits kontingente Entscheidung sind nur reziproke Manifestationen ein und derselben ontologischen Konfiguration, die durch die Tatsache erzeugt werden, dass ein lebendes System sich durch dauernd wechselnde Einstellungen auf seine Umgebung bezieht. Es gibt keinen Gedanken, der nicht stetig vom Willen zum Denken getragen wird, und es gibt keinen Willensakt ohne theoretische Vorstellung von etwas, das dem Willen als Motivation dient.
Unter diesen Umständen ist es verständlich, dass wir bis jetzt keine wissenschaftliche Entscheidungstheorie haben. Wenn der Wille nicht als isolierbare Fähigkeit behandelt werden kann und als solcher auch nicht existiert, dann ist es nicht möglich, für ihn und seine Mechanik des Entscheidungsprozesses eine unabhängige Theorie zu entwickeln. Wir glauben aber – und das entspricht durchaus der Widersprüchlichkeit des Themas – dass wir eine Theorie des Denkens haben, die ursprünglich von Aristoteles konzipiert und bis in die Gegenwart weiterentwickelt und verbessert wurde. Diese Behauptung setzt jedoch nur einen fundamentalen Irrtum fort. Wir haben gerade keine Theorie der 'Mechanik des Denkens'.
(Aus: Gotthard Günther, „Erkennen und Wollen“, Teil 1)