Konjunktive und disjunktive Reflexion (1)

Metaphysische Logik, eine grundlegende Annahme und ihre Umkehrung.  Zeitlosigkeit macht's möglich.

Es ist nämlich sehr leicht, die Intention der Großen Logik in ihr direktes Gegenteil zu verkehren und statt der metaphysischen Identität von Denken und Sein ihre metaphysische Nichtidentität zu demonstrieren. Es ist dazu nur nötig, im absoluten System die totale Reflexion als Disjunktion statt als Konjunktion zu entwickeln. Die Konjunktion wäre dann im Abschluss des Systems ihrerseits nur durch eine leere Negation (die zu der materialen Disjunktivität nichts hinzufügt) zu erreichen.

Eine solche zweite Version der Großen Logik könnte geschrieben werden, indem man einfach den ersten Satz der Hegelschen Logik ‚Das Sein ist das Nichts‘ umdreht und an seine Stelle den formal-äquivalenten Satz ‚Das Nichts ist das Sein‘ setzt. Nachdem man das getan hat, führt man den gesamten dialektischen Prozess noch einmal durch. Diesmal wird sich das Resultat ergeben: die doppelte Reflexion ist die Reflexion entweder der einfachen Reflexion-in-sich oder der unmittelbaren Reflexion-in-anderes. In der Hegelschen These ‚Das Sein ist das Nichts‘, ein Satz, in dem „Sein“ Subjekt und „Nichts“ Prädikat sein soll, ist nämlich die metaphysische Voraussetzung verborgen, dass vom Sein zum Nichts ein Reflexionsgefälle existiert. Das Sein ist objektiv, das Nichts ist „nur“ subjektiv. Drehen wir nun diesen Satz um, so implizieren wir damit in der Hegelschen Terminologie, dass das Reflexionsgefälle vom Nichts zum Sein läuft.

Man kann in mehr modernerer Terminologie auch sagen, die Hegelsche Logik, so wie sie ist, ist auf der metaphysischen These aufgebaut, dass das Sein von höherer logischer (und ontologischer) Mächtigkeit ist als das Nichts. Dieser Standpunkt ist relativ alt. Er ist explizit zum ersten Male in den späten Dialogen Platos durchgeführt worden. Und seit dieser Zeit hat er die gesamte Geschichte der Logik im Abendland bis zu ihrem Höhepunkt und Abschluss durch Hegel beherrscht.

 

(Aus: Gotthard Günther, „Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik“, Felix Meiner Verlag, 1978, S. 319)