Seit etwa einhundertfünfzig Jahren hat sich die metaphysische Stellung des Menschen so intensiv zu verändern begonnen, dass die Symptome einer bis in letzte Daseinsvoraussetzungen gehenden bewusstseinsgeschichtlichen Bewegung auch an der Oberfläche unserer historischen Existenz sichtbar zu werden beginnen und von nun ab nicht mehr übersehen und kaum fehlgedeutet werden können.
Blicken wir in die Vergangenheit, so fällt (nicht zufällig) der Horizont der ältesten Geschichte mit einer urphänomenalen Bewusstseinshaltung des menschlichen Ichs zusammen, die sich in einfachsten Zügen etwa folgendermaßen beschreiben lässt: Die Seele wird in eine Welt hineingeboren, die von ihren tiefsten Hintergründen bis zu der unübersehbaren Vielgestaltigkeit ihrer Oberfläche ewige Natur ist. Unter "Natur" aber versteht das erlebende Bewusstsein eine in ihrem letzten Wesen unbegreifliche Kontingenz, ein übermenschliches Reich unwandelbarer Gesetze und ein ganz in sich selbst ruhendes Sein, das vor allem Bewusst- und Ich-Sein da war. Von diesem primordialen Factum, dass da etwas west, was die sterbliche Seele nur nachträglich und unvollkommen begreifen kann, sagt eine alte Formel: Es ist dasjenige, was da war, was da ist und was da sein wird. Die Welt ist so in ihrem innersten Kern endgültige und ewige Objektivität und unterscheidet sich darin von der prekären Flamme des Bewusstseins, die sich erst nachträglich an ihr entzündet und in der Asche der Zeitlichkeit schnell wieder erstickt.
Diese Bewusstseinssituation der menschlichen Seele hat in der klassischen Metaphysik der Griechen ihren endgültigen begrifflichen Ausdruck gefunden. Von Plato über Aristoteles bis zu Plotin und den späteren Neuplatonikern wird mit vorbildlicher (wenn auch einseitiger) Ausrichtung auf das Problem der Objektivität das Wesen des primordialen Seins mit einer Reflexionshelle beschrieben, die die nachfolgenden Zeiten zwar gelegentlich erreicht, aber nie übertroffen haben. Wir sind bis heute nicht in der Lage gewesen, dem, was Plato, Aristoteles und ihre Schüler in der "Antike" über das Wesen des sich gleichbleibenden und mit sich selbst identischen Seins der Wirklichkeit gesagt haben, irgendetwas Wesentliches hinzuzufügen. Es gab von da an bestenfalls Bewahrung dieses metaphysischen Themas oder Verfall und Abstieg.
...
Die Antike ist nicht der Anfang der klassischen Bewusstseinsverfassung des menschlichen Ichs, sondern der Abschluss und die geistige Liquidation einer welthistorischen Epoche von solchem Ausmaß, dass neben ihr die etwa zweiundeinhalb tausend Jahre zwischen Thales und uns Heutigen nur als kurzes und flüchtiges Zwischenspiel vor dem endgültigen Beginn der nächsten großen universalgeschichtlichen Periode erscheinen.
(Aus: Gotthard Günther, "Schöpfung, Reflexion und Geschichte", Merkur, Juli 1960, 14. Jahrgang, Heft 149, pp 628-650)