Was dieses schwierige Textstück im ersten Teil besagt, kann kurz und bündig mit Hegels eigenen Worten ausgedrückt werden, die den eben zitierten Sätzen entnommen sind: „Das Sein ist ... diese Reflexion selbst.“ Wir haben zwecks genauer Interpretierung der Hegelschen Gedanken nur zu fragen: Welche Reflexion ist mit „dieser Reflexion“ gemeint? Der Text enthält auch darauf die Antwort: Es ist die Reflexion, die sich in „Unmittelbares“ und „Negation“ aufteilt oder reflektiert. Damit ist aber auch schon die weitere Antwort auf die Frage gegeben, warum wir – ungleich Gott – das Sein im Denken nicht selbst haben. Im Sein ist Unmittelbarkeit und Negation eins. Beide Momente sind dort nicht voneinander geschieden. Sie sind eben unmittelbar ein und dasselbe. In der subjektiven Reflexion unseres theoretischen Bewusstseins aber fällt diese Einheit in die beiden Motive „Sein“ und „Schein“ auseinander. In mehr modernerer Terminologie: das volle Thema „Sein“ kann im Bewusstsein nur in zwei einander entgegengesetzten Reflexionssystemen abgebildet werden: a) der ortho-thematischen Reflexion-in-anderes und b) der pseudo-thematischen unmittelbaren Reflexion-in-sich. Das Faktum des Bewusstseins beruht ja ausdrücklich auf dieser Gegenläufigkeit der Erkenntnismotive „Ich“ und „Es“. Andererseits aber sind im Sein selbst beide Reflexionssysteme in vollem Deckungszustand. Sie sind identisch miteinander, ununterscheidbar und ohne gegenläufige semantische Funktionsbereiche. Dies ist der Unterschied von Seins- und Reflexionsidentität. Seinsidentität wird durch ein System repräsentiert. Reflexion aber durch zwei einander inverse Systeme. Reflexionsidentität ist der erfahrene Widerspruch zwischen der „Aristotelischen“ und der „kontra-Aristotelischen“ Richtung des Bewusstseins.
Es ist die „Schwäche“ unseres Bewusstseins, dass es immer nur in einem dieser Systeme sich verwirklichen kann und nicht in beiden zugleich, ohne sich selbst zu widersprechen und, qua Bewusstsein, aufzulösen. Das Ansichsein jedoch ist beides. Indem das Bewusstsein aber immer nur den einen oder anderen Aspekt des Seins erfasst, wird es durch diesen Widerspruch in sich selbst vom Sein ferngehalten. Um das Sein wirklich in unseren Begriffen direkt zu haben, müssten die letzteren in einem Denkvollzug zugleich ortho- und pseudo-thematisch ausgerichtet sein. In der Terminologie der spekulativen Logik: die Reflexion-in-anderes müsste selbst die Reflexion-in-sich sein – ohne dass der Begriff sich dabei selbst negierte. Wenn es also gelänge, den Widerspruch der „Aristotelik“ und der „kontra-Aristotelik“ im Bewusstsein aufzuheben, dann würde unser Denken nicht nur den „Schein“ der Dinge in sich abbilden, sondern die letzteren selbst haben. Denn, um es noch einmal zu wiederholen: „das Sein ist ... diese Reflexion selbst.“
(Aus: Gotthard Günther, „Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik“, Felix Meiner Verlag, 1978, S. 285-286)