Dies ist denn in der Tat auch unser heutiges Erbe, das wir von den Idealisten übernommen haben. Auf der einen Seite wird unabhängig von aller Philosophie im Zuge einer völlig säkularisierten Entwicklung der Mathematik und Naturwissenschaften ein sinn-indifferenter Formalismus von raffiniertester Verfeinerung ausgearbeitet, in dem in wissenschaftlich exakt nachprüfbarer Weise zum ersten Mal festgestellt wird, dass der klassische Formalismus in der Tat so eng ist, dass er nicht einmal mehr modernen naturwissenschaftlichen Bedürfnissen (geschweige denn philosophischen) genügt. Auf der anderen Seite aber ist das Erbe Hegels in Hunderte und Tausende von zusammenhanglosen Ideen und Ideechen zersplittert. Niemand ist gegenwärtig in der Lage, ein echtes philosophisches Gespräch mit seinem Nachbarn zu führen. Man besitzt keine gemeinsamen Voraussetzungen mehr und kein allgemein anerkanntes System der Kommunikation, vermittels dessen die wenigen relevanten Ideen, die noch in den besseren Köpfen ein einsiedlerisches Dasein führen, in sachlich bindender Weise mitgeteilt werden können.
Das Vorbild für diese geistige Anarchie liefern die Fichteschen, Schellingschen und Hegelschen Texte selber. Niemand, der wirklich ehrlich ist, wird behaupten, dass er den Text der Phänomenologie des Geistes oder der Großen Logik dem präzisen Wortlaut nach genau verstehen kann. Das meiste ist, wenn wir einmal ganz aufrichtig sein wollen, ein obskures Abrakadabra, demgegenüber alle Mitteilungs- und Interpretationssysteme, über die wir bisher verfügen, kläglich versagen. Die Folge davon ist, dass von mathematisch orientierten Denkern, die auf Reinlichkeit und Durchsichtigkeit der Begriffe dringen, der spekulative Idealismus verächtlich beiseite gelassen wird. Von den noch am transzendentalen Idealismus festhaltenden Philosophen aber wird die Dunkelheit und Unkommunikabilität dieser Texte als Beweis genommen, dass hier das Denken wirklich die letzten Grenzen formalisierbarer – und exakt mitteilbarer – Rationalität überschritten habe.
(Aus: Gotthard Günther, „Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik“, Felix Meiner Verlag, 1978, S. 304, 305)