Die zweite Realität

 

Die abendländische Zivilisation, in der wir heute leben, ist, wie jeder Gebildete weiß, im wesentlichen das Endprodukt einer mit dem Hellenismus beginnenden Auseinandersetzung zwischen der griechischen, ganz aufs Objektive gerichteten theoretischen Bewusstseinshaltung und den orientalischen (letztlich christlichen) Gedankenmassen, in denen die Thematik sich scheinbar auf das Subjekt richtet, in Wirklichkeit aber über dasselbe hinaus auf ein Drittes, Tieferes geht, das wir in der Erzählung der Genesis als reflexiven Realprozess kennengelernt haben. Die innere Verwandtschaft der beiden Haltungen ist evident. Im Griechentum distanziert man sich von dem, was Sein in der vergangenen Epoche der Weltgeschichte war – und dieser Seinsbegriff schließt Objekt und Subjekt (als seiende Existenz in der Welt) ein. In der orientalischen Tradition findet genau derselbe seelische Distanzierungsprozess statt, nur nimmt man hier Abstand von dem, was Geschehen (Prozess), in der Vergangenheit des Menschen gewesen ist. Auch hier umschließt das, wovon man sich entfernt, beides – Objekt und Subjekt.

Die letztliche reflexionstheoretische Identität dieser beiden vorerst nur emotional verwandten Haltungen wird aber nicht geahnt. Und damit setzt ein Bewusstseinsprozess ein, der ziemlich genau zwei Jahrtausende gedauert hat, heute aber wohl seine Schlussphase erreicht hat. Am Beginn unserer Zeitrechnung hat der Mensch de facto sich von einer Weltepoche größten Stils abgelöst. Die Zeit, die seither verflossen ist, hat dazu gedient, uns das Wissen dessen, was da geschehen ist, beizubringen. In diesen letzten zwei Millennien (oder auch etwas länger) ist die Geschichte des Menschen als Realgeschichte und "kosmisches" Geschehen stillgestanden. Er hat aber in dieser kurzen Periode an einer Bewusstseinsgeschichte von fast unvorstellbarer Intensität gelitten. In ihr ist heute das, was von dem historischen Subjekt der vorangegangenen Realgeschichte noch übrig war, durch die innere Reflexionsarbeit der regionalen Hochkulturen zerrieben worden. Es ist bezeichnend, dass Spengler glaubt, dass mit der faustischen Kultur, der bestenfalls noch ein "matter Nachzügler" folgen kann, die Geschichte des Menschen zu Ende ist. Was Spengler im Auge hat, ist nur die spezifische Gestalt der menschlichen Existenz, wie sie in dem kurzen Zwischenspiel der Hochkulturen von China bis Westeuropa erscheint. Von derselben ist allerdings zu sagen, dass sie keine Zukunft mehr hat. Das besagt aber gar nichts für die Möglichkeit der Geschichte eines neuen "Menschen", dessen Wesen sich zu uns Heutigen etwa so verhält, wie wir zu der animalischen Existenz des – Tiers.

 

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Was die erste primordiale Periode des menschlichen Daseins charakterisierte, war die Tatsache, dass sich dasselbe in einer Welt befand, deren Seinscharakter, wie bereits bemerkt, völlig kontingent und undurchsichtig war. In mythologischer Formulierung: Dieses Sein war dem Willen Gottes entsprungen. Alle Ausrichtung auf dieses Sein ist indirekt eine Ausrichtung auf den göttlichen Willen. Die Geschichte des Menschen war somit Heilsgeschichte und damit in ihren letzten Intentionen allem irdischen Wollen entzogen. Es ist bezeichnend, dass die Idee der menschlichen Freiheit in diesem Daseinsraum nur über das liberum arbitrium indifferentiae zur resignierenden Dialektik einer "freiwilligen Aufgabe der Freiheit" führt (Gehlen). Mit der absoluten Kontingenz des göttlichen Ratschlusses ist nicht zu rechten, und nicht umsonst nennt sich die letzte der großen Weltreligionen: Islam – was Ergebung bedeutet.

Während aber das Bewusstsein des Menschen in der vergangenen Epoche unter diesen Voraussetzungen metaphysisch ausgerichtet war, hat sich, erst langsam und dann in immer steigendem Tempo, dank der menschlichen Handlungskapazität der natürliche primordiale Seinshintergrund der Welt mit einer zweiten Realitätsschicht überlagert. Hegel, der als erster ihre fundamentale Relevanz erkannt hat, nennt sie den "objektiven Geist". Darunter ist die durch die Geschichte geschaffene Institutionalität und die durch sie produzierte Transformation der natürlichen Existenz zu verstehen. Der Mensch hat hier – dank einer Jahrtausende langen Projektion seines Willens auf das physische Material der Natur – eine "zweite Kontingenz" des Seins geschaffen, der sich einerseits niemand mehr entziehen kann, die aber andererseits eine unerhörte Konsolidation der menschlichen Existenz mit sich gebracht hat.

 

(Aus: Gotthard Günther, "Schöpfung, Reflexion und Geschichte", Merkur, Juli 1960, 14. Jahrgang, Heft 149, pp 628-650)