Sichtbar waren diese Dinge meist nicht, doch dem, der ein seismographisches Registriervermögen besaß, konnte nicht entgehen, dass unter all diesem ostentativen Wohlstand, all dieser glänzenden Gediegenheit eine Unsicherheit nagte, die zwar von den meisten geleugnet oder unterdrückt wurde, in den unerwartetsten Augenblicken aber doch in Erscheinung treten konnte. Er war nun schon lange genug hier, um zu wissen, dass im Gegensatz zu im Ausland oft gehörten Behauptungen die ewige Selbsterforschung, in welcher Form auch immer, nie aufhörte, dafür brauchte man nur während einer beliebig ausgewählten Woche das Wort Juden in allen Medien zu zählen, eine mal unterschwellige, mal offen zutage tretende Obsession, die nach wie vor in dem mitschwang, was sich schon lange zu einer gut funktionierenden liberalen, modernen Demokratie entwickelt hatte. Der beste Beweis dafür war, dass man das als Ausländer nicht einmal sagen durfte, dass man gerade von Leuten, die aufgrund ihres Alters an keinerlei Schandtat beteiligt gewesen sein konnten, gewarnt wurde, ihr Land auf gar keinen Fall je zu unterschätzen. Dann führten sie Brandstiftungen an, Greuelgeschichten aus dem Osten, wo man einen Angolaner aus dem Zug geworfen hatte, oder jemanden, der von zwei Skinheads halb tot geschlagen worden war, weil er nicht mit dem Hitlergruß hatte grüßen wollen, und wenn man dann sagte, dass solche Dinge grauenhaft und abscheulich waren, in Frankreich, England oder Schweden aber ebenfalls vorkamen, dann wurde man beschuldigt, blind zu sein für das immer stärker dräuende Unwetter.
(Aus: Cees Nooteboom, "Allerseelen")