Semski hatte in der Musik einen neuen Glauben angenommen, nach dem die von ihm produzierten Töne in den Zuhörern selbst entstehen sollten.
In W. Orlow‘s bekanntestem Roman „Das irdische und das dämonische Leben des Musikers Danilow“ (Berlin, 1982) geht es interessanterweise nicht nur darum, als Künstler in einer funktionalisierten Welt irgendwie zurechtzukommen, sei es als Mensch oder als Dämon, sondern auch um die Wahrhaftigkeit der Musik, als Gegenstück zur Technologie.
Einen besonders kompromisslosen Vertreter in Bezug auf diese Wahrhaftigkeit finden wir in der Person des Geigers Semski. Hier ein kleiner Textausschnitt (S.132/133):
Nikolai Borissowitsch Semski war korpulent, hatte einen gewaltigen Baß, konnte leere Gläser mit seiner Stimme bersten lassen, hatte eine Glatze, dafür aber buschige Brauen, hieß mit Spitznamen „Menschenfresser“ und hatte im Kollektiv den Ruf eines Rüpels und Radaubruders. Sogar die Dirigenten fürchteten seine Flegeleien. Mit seinem Körperbau hätte Semski im Zirkus auftreten können oder im Orchester mit seinem mächtigen Brustkasten zumindest die riesige kupferne Tuba blasen müssen; er aber war Geiger, zudem ein außerordentlich geübter und einfühlsamer. Seit einem halben Jahr spielt er allerdings nicht mehr, das heißt, er spielte schon, aber so wie Danilows Orchesternachbar Tschesnokow: lautlos. Dabei übertraf er Tschesnokow an Kunstfertigkeit bei weitem. Und die Saiten ließ er unberührt, nicht aus Angst, Fehler zu machen, sondern aus einem künstlerischen Prinzip heraus. Wenn man ihn bäte, irgendeine Partie zu spielen, brächte er sie nicht schlechter als die erste Violine. Aber darum bat ihn niemand. Bei sechsunddreißig Geigen fällt das Schweigen einer Geige, und sei es die zarteste, im Orchester überhaupt nicht auf. Die neben Semski sitzenden Musiker sagten nichts, weil sie wußten, daß er sie dann doch überschreien würde. Vielleicht respektierten sie aber auch sein Prinzip. Semski hatte in der Musik einen neuen Glauben angenommen, nach dem die von ihm produzierten Töne in den Zuhörern selbst entstehen sollten. Er hätte die althergebrachte Art des Musizierens längst aufgegeben, aber es blieben ihm nur noch zwei Jahre bis zur Rente, und die wollte er sich nicht entgehen lassen. Im täglichen Umgang war er rücksichtslos und unverfroren. Danilow allerdings behandelte er mit Respekt. Erstens, weil er in ihm einen wahren Musiker sah...
Dies ist nur zu verstehen in Zusammenhang mit der im Buch gestellten Frage nach der Unterscheidbarkeit von maschinell erzeugter und vom Menschen erzeugter Musik. Denn mit seinem neuen künstlerischen Prinzip vollzieht Semski eine ganz entscheidende Wendung. Er eliminiert den Zwischenschritt der Schallübertragung und entzieht sich damit dem Zugriff der Maschine zur Reproduktion seiner Musik.
Aus heutiger Sicht, mit der klaren Unterscheidung von erzeugender/schaffender Handlung und maschineller Reproduktion/Variation/Imitation/Simulation des Erzeugten, mag die Radikalität der Beantwortung der Fragestellung etwas übertrieben anmuten, doch ist es genau diese Radikalität, neben der schriftstellerischen Qualität, die Orlow’s Werk immer noch reizvoll erscheinen lässt. Extrem unterhaltsam, leicht lesbar, und man hat nie das Gefühl, etwas Dummes zu lesen, bzw. seine Zeit zu verschwenden.