Berlin

 

Die gestimmte Stadt. Das galt natürlich für alle alten Städte, aber nicht in allen Städten waren solche Worte gesagt, geschrieben, gerufen, geschrien worden wie hier. Die Stadt als Ansammlung von Gebäuden, das war eine Sache, aber Stimmen, das war eine andere. Wie musste man sich diese Fülle vorstellen? Weg waren sie, die Worte, ihren Toten vorausgeeilt, und doch hatte man, gerade in Berlin, die Vorstellung, dass sie noch da waren, dass die Luft mit ihnen gesättigt war, dass man durch diese unsichtbaren, unhörbar gewordenen Worte watete, einfach weil sie hier einmal ausgesprochen worden waren, das geflüsterte Gerücht, das Urteil, das Kommando, die letzten Worte, der Abschied, das Verhör, die Meldung vom Hauptquartier. Und all die anderen anonymen Worte, die immer in Städten gesagt wurden. Milliarden Stunden würde es dauern, sie aneinanderzureihen, umkommen würde man ihnen, ersticken, ertrinken, sogar heute in diesem Eispalast umgaben sie einen, man konnte sie in der strahlenden, splittrigen Luft hören, flüsternd, murmelnd zwischen den neu geprägten Worten der Passanten, ein Rauschen für die feinsten, empfindlichsten Ohren, solchen, wie sie ein Lebender nicht haben sollte, weil Städte so nicht zu ertragen waren, und diese Stadt schon gar nicht.

 

(Aus: Cees Nooteboom, 'Allerseelen')