Von der Dringlichkeit zur Gründung einer Gesellschaft zur Durchführung planmäßiger Ermittlungen zur Aufdeckung unerhörter Wahrheiten und umstürzlerischer Ideen.
Kuno Mlatje
„Odyss aus Ithaka“
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Der Verfasser dieser Arbeit, Bauber der Katalane genannt, wurde bei lebendigem Leibe verbrannt, nachdem man ihm zuvor die Gliedmaßen abgehackt, die Zunge ausgerissen und die Gedärme durch Trichter mit flüssigem Blei gefüllt hatte. „Eine machtvolle Gegenargumentation, wenngleich auf anderer, nämlich außerlogischer Ebene“, stellte der junge Doktor der Philosophie, der die Schrift gefunden hatte, dazu fest. Ein Autor namens Sophus Brissengnade wiederum bewies auf der Basis einer Axiomatik der „zweinulligen Arithmetik“ die Möglichkeit einer widerspruchsfreien Theorie der rein transfinalen Menge und erwarb sich die Anerkennung der gesamten gelehrten Welt, aber auch sein Thema geht letztlich mit Arbeiten zeitgenössischer Mathematiker konform.
Odyss muss also erkennen, dass es bisher nur bei der Entdeckung von Vorläufern geblieben ist, deren Ideen später von anderen ein zweites Mal entdeckt wurden, anders ausgedrückt: Sie alle sind Genies zweiter Klasse. Wo aber hat die erste Klasse ihre Spur hinterlassen? Der Zweifel nistet nie in der Seele des Odyss, wohl aber die Furcht, der Tod – immerhin steht der Mann an der Schwelle des Alters – könne die weitere Suche jäh unterbinden. Schließlich kommt die Affäre mit dem florentinischen Manuskript. Das Pergamentbündel aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, mit rätselhaften Zeichen übersät, erscheint zunächst als unnütze alchimistische Abschreibearbeit, bis dem Finder, einem jungen Mathematikstudenten, Ausdrücke auffallen, die an Funktionsreihen erinnern, wie sie zu jener Zeit niemand gekannt haben konnte.
Von Experten begutachtet, ruft das Werk unterschiedliche Reaktionen hervor, im Ganzen begreift es keiner. Die einen halten es für Faseleien mit seltenen Momenten logischer Klarheit, die anderen für die Frucht einer Krankheit. Die beiden bedeutendsten Mathematiker, denen Odyss Fotokopien der Handschrift zustellt, sind sich ebenfalls nicht einig. Der eine hat sich immerhin die Mühe gemacht, das Gekrakel zu einem Drittel zu entziffern und die Lücken mit eigenen Vermutungen zu farcieren. Eine „außergewöhnliche Konzeption“ nennt er die Arbeit in einem Brief an Odyss, weiß aber gleichwohl nichts mit ihr anzufangen: „Wer diese Idee für bare Münze nehmen will, muss drei Viertel der existierenden Mathematik verwerfen und auf neue Beine stellen. Hier wird einfach eine andere Mathematik vorgeschlagen, als wir sie uns angeeignet haben. Ob sie besser ist, vermag ich nicht zu sagen. Vielleicht ist sie es, aber um das nachzuweisen, müsste ein ganzes Hundert der besten Leute das ganze Leben aufwenden, um für den florentinischen Anonymus das zu leisten, was Bolyai, Riemann und Lobatschewski für Euklid geleistet haben.“
An dieser Stelle ließ Homer Odyss den Brief fallen, schrie „Heureka“ und tanzte durch das Zimmer, vor dessen Fenstern azurn die Bucht blaute. Odyss hatte begriffen, dass die First-Class-Genies nicht etwa von der Menschheit auf ewig leichtfertig verbummelt worden, sondern dieser Menschheit selber verlustig gegangen sind, weil sie sich von ihr absetzen: Diese Genies existieren nämlich nicht einfach – sie existieren jedes Jahr immer weniger. Die Werke der Zweitrangigen sind immer zu retten, man braucht sie nur abzustauben und in die Druckereien oder Universitäten zu geben. Die Werke der ersten Klasse hingegen rettet nichts – sie stehen außerhalb der Geschichte.
(Aus: S. Lem, „Das absolute Vakuum“)